Viele Offizielle und Politiker in unserem Land bezeichnen etwa die afghanische Hauptstadt Kabul gerne aus »sicher«. So sicher, dass es für ÖsterreicherInnen eine aufrechte Reisewarnung der höchsten Stufe des Außenministeriums gibt. Denn: Im angeblich „sicheren“ Kabul kamen allein heuer bei über einem Dutzend Anschlägen ca. 400 Menschen ums Leben. Die Attacken der verschiedenen Terrororganisationen fordern aber ein Vielfaches an Opfern – viele überleben verstümmelt, werden nie mehr ein eigenständiges Leben führen können. Einer der massivsten Angriffe traf ausgerechnet die deutsche Botschaft – zu einem Zeitpunkt, als sich ein Abschiebungsflug aus Europa im Anflug auf die Hauptstadt befand.
Auch in den zuvor als eher sicher geltenden Großstädten im Norden und Westen kam es vermehrt zu Anschlägen: So vor einem Jahr auf das deutsche Generalkonsulat und in Masar-i Sharif und im Sommer auf eine schiitische Moschee in Herat. Allein bei diesem Anschlag wurden 29 Menschen getötet. Auch in anderen Teilen des Landes gerieten in den letzten zwei Jahren religiöse Einrichtungen und Würdenträger zunehmend ins Visier der Taliban und des ISK (Islamischer Staat von Khorasan – der in Afghanistan operierende Ableger von IS/Daesh).
Die Berichte über die Sicherheitslage außerhalb der Städte zeichnen ein ganz düsteres Bild: Nur noch etwas mehr als Hälfte des Staatsgebietes wird von der afghanischen Regierung kontrolliert. Der Herbst 2017 war ein besonders blutiger. Sowohl die Regierungstruppen als auch die Taliban und ISK forcierten ihre Angriffe.
Die Taliban starteten die so genannte „Herbstoffensive“ in mehreren Provinzen, wobei bis in den November über 100 Opfer zu beklagen waren. Einer der schwersten Überfälle in diesem Jahr ereignete sich in Gardez, der Hauptstadt der ostafghanischen Provinz Paktia. Sieben Attentäter griffen das Polizeihauptquartier an, vor dem an diesem Morgen zahlreiche Menschen Schlange standen, um Pässe oder Personalausweise abzuholen. 41 Personen wurden getötet, rund 160 verletzt. Unter den Toten waren zahlreiche ZivilistInnen, aber auch der Polizeichef der Provinz.
Im vergangenen Sommer sprach die UNO von den höchsten zivilen Verlusten seit 2001, als die internationalen Truppen die Taliban vorübergehend vertrieben hatten. Zwischen Jänner und September stieg die Zahl der getöteten ZivilistInnen von 2.616 (2016) auf allein 2.640 im laufenden Jahr.
Die Regierung und ihre US-amerikanischen Verbündeten haben heuer so viele Bomben abgeworfen wie zuletzt 2012. Mit dem Resultat, dass im ersten Halbjahr die Zahl der durch Luftangriffe getöteten und verletzten ZivilistInnen im Vergleich zu 2016 um 43 Prozent auf 232 gestiegen ist. Dabei waren die USA für 37 Prozent der Opfer verantwortlich, die afghanische Luftwaffe für 48 Prozent. Die übrigen Angriffe waren nicht eindeutig zuzuordnen.
Als Folge dieser dramatischen Entwicklungen sehen sich die afghanischen Behörden mit massiven Bevölkerungsbewegungen konfrontiert. Einerseits gibt es ca. zwei Millionen intern Vertriebene, davon allein 350.000 im laufenden Jahr, die sich in den wenigen Großstädten drängen.
Kabul ist von 700.000 EinwohnerInnen in den 1990er Jahren auf ca. fünf Millionen förmlich explodiert. Auch Herat und Masar-i Sharif können die Vertriebenen aus den umkämpften oder von den Taliban beherrschten Gebieten nicht mehr aufnehmen. Von den Vertreibungen sind 31 der 34 afghanischen Provinzen betroffen. Jüngster Schauplatz militärischer Auseinandersetzungen auf Kosten der Zivilbevölkerung ist die Provinz Nangarhar (Hauptstadt Jalalabad), wo sich Taliban und ISK bekriegen.
Dazu kommen seit 2015 jährlich zigtausende Menschen, die aus dem Iran und Pakistan zurückgeschickt werden. Zwar läuft diese Rückführung zum Teil geordnet mit Hilfe von IOM und UNHCR ab, aber für den Großteil der entwurzelten RückkehrerInnen ist Reintegration so gut wie unmöglich. Allein 2017 kamen mehr als 500.000 aus Iran and Pakistan in ihre „Heimat“ zurück.
Dass sie keineswegs im Paradies angekommen sind, mussten viele im Sommer 2015 auch in Österreich erfahren, als viele Flüchtlinge im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen in Zelten, Bussen oder am nackten Boden schlafen mussten. In der Folge wurden (vor allem allein reisende junge) Männer in Massenquartiere gepfercht und nicht ihrem jugendlichen Alter entsprechend betreut. In dieser Situation halfen in unnachahmlicher Solidarität tausende ÖsterreicherInnen, die ärgsten Versäumnisse der Behörden zu lindern. Sie gingen auf die Flüchtlinge zu, organisierten Deutschkurse, unternahmen gemeinsame Ausflüge, organisierten Workshops oder Kochabende.
Hilfsbereitschaft in rot-weiß-rot
Was aber am meisten zählt: Sie boten menschliche Nähe, ein offenes Ohr für Ängste und Sorgen – ohne dafür Dankbarkeit und Wohlverhalten zu verlangen. Viele dieser Beziehungen bestehen bis heute, junge afghanische Flüchtlinge wurden Teil von österreichischen Familien.
Jetzt, nach über zwei Jahren des Wartens auf den Ausgang ihres Asylverfahrens, droht vielen dieser Beziehungen ein jähes Ende. Afghanische Flüchtlinge und ihre österreichischen FreundInnen und UnterstützerInnen werden mit einer geänderten Rechtsprechung und überwiegend negativen Asylbescheiden konfrontiert. Es scheint dabei unerheblich, dass sie sich in dieser Zeit die deutsche Sprache angeeignet, Lehrstellen gefunden oder andere Ausbildungen begonnen haben. Angst und Panik erfassen nicht nur Flüchtlinge, sondern auch ihre UnterstützerInnen: Schlaflosigkeit, Panikattacken, Depression, bis zu Selbstmordgedanken.
Achtung Gutachten!
Beinahe 20 Prozent der afghanischen Asylsuchenden droht nach einem negativen Bescheid in zweiter Instanz die Abschiebung in ihr „Heimatland“, in dem viele nur wenige Jahre, manche auch nie gelebt haben. Den österreichischen Behörden gilt vor allem die Hauptstadt Kabul als sicher. „Es gibt keine Gründe, welche die Rückkehr nach Afghanistan von männlichen Einzelpersonen unmöglich machen oder eine Gefährdung der Rückkehrer bedeuten würde“, so der von manchen ReferentInnen und RichterInnen gerne beschäftigte gerichtlich vereidigte Sachverständige (und an sich Geschäftsmann) Karl Mahringer, der übrigens auch als Sachverständiger für Syrien und den Irak gilt. Seine Meinung wird von keinem/keiner namhaften Experten/Expertin geteilt, sein Gutachten ist höchst umstritten und wird von Fachleuten zum Teil als »Reisebericht« bezeichnet. In Afghanistan kann – so der allgemeine Tenor der ExpertInnen und Betroffenen – von Sicherheit keine Rede sein.
In dieses Land schieben Europäische Regierungen junge Menschen ab. Die Mehrheit der Rückkehrenden hat keine andere Wahl, als in Städten Zuflucht zu suchen. Nicht nur für Kinder, Alte und Kranke, sondern auch für junge, gesunde Erwachsene sind die Umstände lebensgefährlich. Neben Terroristen haben es bewaffnete Banden auf die RückkehrerInnen abgesehen, weil sie annehmen, dass diese aus dem Westen Geld mitbringen. Aber auch medizinische Probleme sind kaum zu lösen. Selbst Hilfe in Notfällen ist mit den 15 (!) verfügbaren Krankenwagen in der Millionenstadt Kabul nicht gewährleistet.
In Österreich bekamen 2017 mehr als 80 Prozent der afghanischen Flüchtlinge entweder Asyl oder subsidiären Schutz zuerkannt. Die häufige Unterstellung, die meisten AfghanInnen hätten nur wirtschaftliche Gründe für ihre Flucht, wird von dieser Statistik eindeutig widerlegt. Richtig ist, dass die erste Instanz, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), in den letzten Monaten sehr häufig negative Entscheidungen fällt und die Betroffenen in die Beschwerdeinstanz (Bundesverwaltungsgericht, BVwG) gehen müssen.
Die häufigen negativen Bescheide könnten auch damit zu tun haben, dass nach der Unterzeichnung des zynischerweise „Joint Way Forward“ betitelten Abkommens zwischen der EU und Afghanistan im Oktober 2016, abgelehnte AsylwerberInnen leichter abgeschoben werden können. Afghanische Botschaften stellen nun erstmals wieder für abgelehnte AsylwerberInnen fehlende Reisepapiere aus. Im Gegenzug erhält das Land 1,2 Milliarden Euro Finanzhilfen bis 2020.
Dazu kommen häufige negative Schlagzeilen und eine Diffamierungskampagne der InnenministerInnen. So startete Johanna Mikl-Leitner im März 2016 eine Kampagne unter dem Hashtag „Wirtschaftsflüchtlinge“ und auch der nachfolgende Innenminister Wolfgang Sobotka spricht von Afghanen mit Vorliebe in Zusammenhang mit Drogen- oder Sexualdelikten und setzte neben zwangsweisen Abschiebungen auch auf „freiwillige“ Rückkehr („Sobotka-1.000er“).
Kabul ist von 700.000 EinwohnerInnen in den 1990er Jahren auf ca. fünf Millionen förmlich explodiert. Auch Herat und Masar-i Sharif können die Vertriebenen aus den umkämpften oder von den Taliban beherrschten Gebieten nicht mehr aufnehmen. Von den Vertreibungen sind 31 der 34 afghanischen Provinzen betroffen. Jüngster Schauplatz militärischer Auseinandersetzungen auf Kosten der Zivilbevölkerung ist die Provinz Nangarhar (Hauptstadt Jalalabad), wo sich Taliban und ISK bekriegen.
Dazu kommen seit 2015 jährlich zigtausende Menschen, die aus dem Iran und Pakistan zurückgeschickt werden. Zwar läuft diese Rückführung zum Teil geordnet mit Hilfe von IOM und UNHCR ab, aber für den Großteil der entwurzelten RückkehrerInnen ist Reintegration so gut wie unmöglich. Allein 2017 kamen mehr als 500.000 aus Iran and Pakistan in ihre „Heimat“ zurück.
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